Unterwegs in Polen

Begegnung mit einer Unbekannten 

Wenn ich Polen ein Geschlecht geben müsste, so ist es nach meinem Empfinden sehr weiblich. Das Polen sehe ich vor mir wie eine vornehme Dame mit langem, dunklem Haar, warmherzig, modern und mit einer weichen, weiten Seele. Wie jemand bei dem man sich sofort geborgen und angenommen fühlt. Dieses Bild entstand in mir auf meiner ersten Reise durch das Land. Ein Land das mir bis dahin ein blinder Fleck auf der Landkarte war und mich nie auf den Gedanken brachte, eine Reise wert zu sein. Ein Land über das ich fast nichts wusste, da es in meiner Vorstellung lange unter dem schweren, grauen Mantel der ehemaligen Ostblockländer vergraben lag.

Ich fühle mich in Polen von Anfang an sehr wohl und willkommen. Nicht wie ein Zuhause, denn dazu ist es mir zu unbekannt, aber etwas resoniert augenblicklich in meinem Herzen als wir den polnischen Grenzfluss überqueren, die Oder. Zu beiden Seiten sehe ich nur friedliche, wunderschöne Natur bis am Ende der langen schmalen Brücke drei junge Erwachsene auftauchen und uns anhalten. Einer von ihnen hat ein mächtiges Maschinengewehr umgehängt. Ansonsten ist an ihnen nicht das Geringste furchterregend. Sie lächeln uns freundlich an und bitten um einen Ausweis. Es ist die junge Frau, die die Kontrolle durchführt und uns nach einem flüchtigen Blick in den Reisepass den Weg freigibt. Wir sind unter polnischem Himmel. Und in einem Land auf das ich sehr neugierig bin. Auch auf seine Menschen.

 

Im krummen Wald

Es ist schon Mittag und ein warmer Tag. Nur wenige Kilometer nach dem Grenzübergang entdecken wir ein Schild mit der Aufschrift: Krzywy Las Ich spreche noch kein einziges Wort polnisch, aber was mich und meine Zunge sofort einschüchtert sind: Zwei Wörter aber nur ein Vokal! Der Schreck ist schnell vergessen als wir diesen beeindruckenden Wald betreten. Auf einem kleinen Abschnitt des Föhrenwaldes wachsen alle Stämme kurz über dem Boden schief in einem Bogen weiter. Erstaunlicherweise stehen sie dafür trotzdem ziemlich gerade da. Eine charakteristische Kerbe ist mal mehr mal weniger sichtbar aber bei jeder einzelnen Föhre an der Knickstelle erkennbar. Sofort muss ich bei diesem Anblick schmunzeln und stehe wie alle anderen vor einem botanischen Rätsel. Auf Holztafeln werden verschiedene Erklärungsversuche gegeben, aber beim Lesen staune ich über die lebendige Phantasie des Autors noch mehr als über das Phänomen selbst. Gewiss ist nur das Ungewisse auf welche Weise diese 80 Jahre alten Föhren zu ihrer krummen Gestalt kamen. Dass die Krümmung von menschlicher Hand durch einen absichtlichen Eingriff am jungen Trieb entstanden sein könnte, leuchtet mir am meisten ein. Doch ob die Waldbesitzer dadurch gebogenes Holz gewinnen wollten zB für den Schlittenbau oder ein anderes Experiment machten, bleibt ein Geheimnis. Auf jeden Fall ist der krumme Wald weltweit ein einzigartiges Phänomen. Die Bäume laden mich ein mich in ihre weichen Kurven zu schmiegen. Es ist ein tolles Gefühl solange ich dabei auf meine körperliche Flexibilität achtgebe. Die Sonne steht hoch und kommt immer wieder zwischen den Wolken hervor. Das wirft großartige Schatten auf den Waldboden und lässt mein Fotografenauge und -herz jubeln. Nach einer kurzen Mittagsjause steigen wir zurück ins Auto und fahren weiter an die Ostseeküste. Endlich ans Meer!

„Was? Polen hat ein Meer?“ Ich stelle immer wieder fest dass ich mit meiner ehemaligen Unkenntnis des Landes nicht alleine bin. Dass Polen Mitglied der Europäischen Union ist, wissen die meisten. Doch hat es auch den Euro? Und wenn nicht, wie heißt die polnische Währung? Ich denke nach welche berühmten Persönlichkeiten aus Polen kamen. Sofort fällt mir Frederique Chopin ein. Dann eine lange Pause. Da unser Urlaub auch eine Weiterbildungsreise werden sollte, lesen wir nach. Kopernikus war ein Pole, ebenso wie Marie Curie und Joseph von Eichendorff. Und natürlich der vorvorletzte Papst. Und dann gibt es noch eine entfernte Urgroßtante in meinem Stammbaum, die ich nie kannte weil sie die Stiefmutter meiner Großmutter war. Sie stammte aus dem Gebiet, das früher Schlesien war und lange Zeit zu Preußen gehörte. Was ist eigentlich typisch polnisch? Wir alle kennen die gängigen Klischees von den Autos aus der Heimat, die hier schon auf uns warten. Eine polnische Freundin erzählte mir, dass sie einmal 230km/h auf der deutschen Autobahn fuhr, weil ihre Tochter ins Krankenhaus gebracht wurde. Als die Polizei sie stoppte, war ihr erster Gedanke, die Beamten hätten sie in Verdacht das Auto möglichst schnell über die Grenze schaffen zu wollen. Klischees sind eben in unser aller Köpfe.

 

 

Ostsee-Impressionen

Polen hat also nicht nur ein Meer, sondern eine hunderte Kilometer lange Küste mit weißen Sandstränden so weit das Auge reicht. Dahinter liegen entweder lange Waldabschnitte oder die klassischen Dünen bevor diese später wieder in Wald übergehen. Was ich inzwischen mit Polen verbinde ist viel, viel Wald, gesunde Mischwälder und viele Nationalparks. Angeblich versucht Polen das bestehende Drittel an eigenen Waldflächen weiter zu vergrößern. Aber zurück zum Meer. Bevor wir losfuhren, schrieb mir meine polnische Freundin aus Frankfurt, dass man am besten badet, wenn das Wetter bewölkt und kühl ist. Dann sei das Temperaturverhältnis von Wasser und Luft ideal. Tatsächlich waren unsere Tage am Strand von Pobierowo ungewöhnlich nass und kühl für Anfang August. Meine Lust im Meer zu schwimmen hielt sich begrenzt, was ebenfalls eine Seltenheit ist. Stattdessen machten wir lieber lange Strandspaziergänge und einen Ausflug in den nahegelegenen Wolinski Nationalpark. Dort lässt sich auf einem Rundweg ein türkiser See und ein herrlicher alter Buchenmischwald, der sich selbst überlassen ist, besuchen bis man an der Küste auf den kleinen Ort Lubin stößt. Wir folgen den Schildern zu der Aussichtsplattform. Hoch auf dem Kliff öffnet sich auf einmal der Blick und vor einem liegt eine unendliche Weite, eine Wasserlandschaft bis an den Horizont, unterbrochen von flachen, grünen Grasinseln, die ich wie einen ungestörten, friedlichen Rastplatz für Scharen von Zugvögeln auf ihrer Durchreise vor mir sehe. Da wo im Mittelalter eine Burg, eine Kirche und ein Friedhof standen, bietet heute ein Café mit großartiger Aussicht den Besuchern Kuchen, Eis und Waffeln an. Hier lässt es sich verweilen, besonders wenn nach einem bewölkten Tag der Himmel plötzlich aufreißt und es auf den Wassern zu glitzern beginnt.

Nach drei kühlen Tagen wage ich an einem Nachmittag doch den Sprung ins Meer. Die Sonne kommt hervor und im selben Moment plätschern tausende Regentropfen auf die wellige Wasseroberfläche. Die Wassertemperatur ist angenehm warm und ich bin begeistert von diesem Naturspektakel. Über einen Wellenberg nach dem anderen schwimme ich der Sonne entgegen. Jetzt weiß ich, was meine Freundin meinte, es bedarf bloß einer kleinen Überwindung am Anfang. Dann ist es herrlich, man wird angenehm erfrischt und an glücklichen Tagen sogar mit einem Regenbogen über dem Meer belohnt.

Die Ostsee hat viele Farben genauso wie das Licht und die Wolken, die sich oft von einem Moment zum nächsten ändern und immer neue Stimmungen erzeugen. Den schönsten und einsamsten Strand in unberührter Natur finden wir als wir die Küste weiter nordöstlich fahren und den Slowinski Nationalpark erreichen. Hier entdecke ich wieder etwas, was für Polen typisch ist: Störche oder auf polnisch: bociany. Ich freue mich immer, wenn ich das Glück habe einen zu sehen und hier in diesem abgelegenen Naturparadies leben während des Sommers vielleicht mehr Exemplare als Menschen. Dementsprechend groß ist meine Begeisterung. In jedem Dorf sehen wir sie allein, zu zweit oder als Familie in ihren großen robust gebauten Nestern sitzen. Der Nachwuchs ist schon groß genug und bereit für den langen Weg in den Süden. Es ist jetzt kurz vor dem Abflug Ende August und von einem Bauern erfahren wir, dass die Jungvögel zirka eine Woche früher aufbrechen als die Eltern. Was für ein Wunder: Dass sie zum ersten Mal ihr Nest verlassen und schon den Weg kennen! Ich staune und blicke voll Bewunderung zu ihnen hinauf. Gerade als wir den Bauern nach einem Zimmer fragen, beginnen sie über uns zu klappern. Seither weiß ich, dass das Glück bringt. Der Bauer überlässt uns sein letztes freies Zimmer, von wo wir wenige Stunden später den riesigen Vollmond über dem Wald aufgehen sehen werden. Wie nahe die Beziehung der Tiere zu den Menschen ist, sehen wir auch am nächsten Morgen als eine beachtliche Anzahl Störche direkt über der Kirchengemeinde ihre Kreise zieht. Auch sie nehmen an der Messfeier teil, die schon voll im Gange ist und der heiligste unter ihnen bekommt diesen Sonntag den Ehrenplatz: Am riesigen Kreuz des Kirchendaches!  

Die Bernsteinstadt

Ein Besuch in Danzig wurde uns schon vor unserer Abfahrt mehrfach empfohlen. Jetzt liegt die Stadt auf unserem Weg in die Masuren und natürlich wollen wir darauf nicht verzichten. Besonders weil uns die Altstadt interessiert, die eine wichtige Handelsstadt entlang der Bernsteinstraße war und im 2.Weltkrieg stark zerstört aber danach wiederaufgebaut wurde. Unsere Eindrücke von einem halben Tag sind: blitzsaubere Straßen und die ersten englisch sprechenden Polen. Beide Erfahrungen würde ich als typisch polnisch bezeichnen. Will man in Polen mit den Menschen näher in Kontakt treten, muss man entweder einen Dolmetscher dabei haben oder davor einen Sprachkurs besuchen. Wenn man Glück hat, trifft man jemanden der gebrochen oder ein paar Wörter deutsch spricht, aber mit deutsch und englisch tut man sich generell sehr schwer. Die Ausnahme sind die jungen Leute, die wir in Danzig problemlos nach dem Weg fragen können. So modern und fortschrittlich mir das Land vorkommt, um auch im internationalen Austausch attraktiv zu sein, wird wohl noch eine weitere Generation englisch sprechender Polen heranwachsen müssen.  Erstklassig ist Polen aber bereits in allem was Sauberkeit und ökologische Abfallwirtschaft betrifft. Schon die Wälder, Strände und Straßen durch die wir bisher kamen, bezeugen einen vorbildlichen Umgang mit jeder Art von Abfall. Mülltrennung ist Gang und Gebe und die verschiedenen Container sind sogar an den Stränden überall aufgestellt. Jetzt stehen wir am Bahnsteig in der Großstadt und könnten uns auch auf den Boden setzen und picknicken. So sauber ist es hier.

Von den Menschmassen, die wir in der Altstadt antreffen, sind wir bald erschlagen. Es ist Sonntagabend und ein riesiger Jahrmarkt aufgebaut. Wir entschließen uns morgen früh nochmal zu kommen. Die Bedeutung und Atmosphäre die das historische Danzig einst gehabt haben muss, lässt sich in so einem Trubel nur erahnen. Heutzutage und vielleicht besonders im Sommer regiert hier eindeutig der Kommerz. Am Glockenturm erhaschen wir noch einen kurzen Blick aus der Vogelperspektive und sehen wie der riesigen aus Backstein gebauten Marienkathedrale die restliche Stadt zu Füßen liegt. Es ist nicht zu übersehen wer und was hier einmal das Sagen hatte. Neben der kirchlichen Macht war wohl der Handel mit Bernstein was ökonomisch von größter Bedeutung war. Heute gibt es in der berühmtesten Straße der Stadt noch viele kleine Läden mit Schmuck und Kunsthandwerk aus Bernstein. Wir lassen uns nicht verführen und entscheiden unser nächstes Ziel anzusteuern…

     

Zu Besuch bei den Kreuzrittern

Marienburg ist wie viele historische Bauten in Polen nur aus Backstein gebaut. Sie ist die größte dieser Art in Europa und ihre Geschichte geht zurück in die Zeit der Kreuzritter und der Gründung des Deutschherrenordens. Ein deutscher Herr Audioguide führt uns dank künstlicher Intelligenz sicher und mit guter Orientierung in zwei Stunden bis ins innerste Herz der Burg, wo die Ritter und Ordensleute ihre Gemächer hatten. Hier ist etwas von der alten Zeit noch lebendig spürbar, ja fast etwas Heiliges das behütet wird von der Welt draußen, die sehr weit weg scheint. Die vielen hohen Mauern, Tore, Gräber und Brücken, die uns wie Zwiebelschalen umgeben, lassen einen hier wie in einem Bollwerk beschützt und in Frieden sein. Ich meine fast etwas von der Ehre und Tugend edler Ritter wahrzunehmen, das erhebend ist. Noch nie hat mich eine Burg so berührt. Auch die kunstvollen Fenster, Türen und Decken sind gut erhalten und meisterlich restauriert. Eine tolle Kulisse für einen Film übers Mittelalter und tatsächlich lesen wir dass diese Idee schon umgesetzt wurde. Auf dem weiten Weg nach draußen begegnen wir noch den drei Rittern aus dem Baltikum. In ihrer Rüstung wirken sie wie ehrbare Ritter die ein paar Jahrhunderte verspätet sind, aber schließlich doch ihr Ziel erreicht haben. Ihre Jugendlichkeit haben sie auf der langen Reise offensichtlich nicht eingebüßt.

 

      

 

Im Land der tausend Seen

Die verbleibende Zeit erlaubt es uns nicht tief in die Masuren einzutauchen doch sie am Rande streifen, das können wir. Uns wurde immer wieder versichert die „echten“ Masuren seien das nicht. Die lägen noch weiter östlich. Die Region um den Geserich-See, der längste und sechst größte der masurischen Seen, nenne sich Warmia. Unser ersehntes Naturerlebnis schmälert das zum Glück kein bisschen. Wofür die Gegend berühmt ist und was sie verspricht, hält sie auch hier allemal. Einsame Seen und Wälder, friedliche Natur und kaum Zivilisation. Masuren bezeichnete ursprünglich alle Bewohner der Region, die evangelisch waren und polnisch sprachen, was auf den Rest nicht zutraf, der preußisch war. Von der Landstraße aus sehen wir eine Hinweistafel zu einem Agrytourizmo. Kurze Zeit danach beziehen wir ein gemütliches kleines Zimmer mit Balkon und Blick auf den See. Das Haus ist über 100 hundert Jahre alt, im typischen Backsteinstil erbaut und war lange Zeit die Schule der Region. Es gab damals 8 Klassen und alle Kinder wurden im selben Raum unterrichtet. Kajaks und Fahrräder stehen uns zur freien Verfügung. Die offene, weite Landschaft und Stille, die wir von unserem Kajak aus mitten auf dem riesigen See erleben ist unbeschreiblich. Das wurde nur mehr übertroffen, als ich ins Wasser springe und mich mit Blick zum Himmel auf dem Rücken tragen lasse. Eins-Sein mit der Natur!

Gleich hinter unserem Haus laden menschenleere Feldwege zu einem Abendspaziergang ein. An zwei darauffolgenden Malen begegne ich denselben Tieren: weißen Reihern im Tümpel, einer Hirschkuh im Feld und drei Kranichen. Bevor ich sie sehe, höre ich ihren Schrei, den ich nicht kenne, obwohl er sehr markant ist. Das Charakteristische ist ein lauter, trompetenartiger Ruf in drei verschiedenen Tonhöhen. Wie die Störche verweilen viele Kraniche während der Brutzeit in Nord-Osteuropa bis sie im Oktober in der bekannten V-Formation weiter in den Süden fliegen.

 

Mensch und Natur passen in diesem Land gut zusammen. Polen empfinde ich als natur- und friedliebend vielleicht auch deshalb, weil sie in der Geschichte so oft von kriegerischen Nachbarn vereinnahmt und beherrscht wurden. Ihre zurückhaltende und herzliche Art erlebe ich wohltuend. Sie sind stolz auf ihr Land und freuen sich, wenn man Interesse an ihrer Kultur und Geschichte zeigt. Da ich kein polnisch spreche, erhielt ich viele Eindrücke über das Nonverbale. Vielleicht die direktere Art in Begegnungen das Wesen(tliche) kennenzulernen. Ich spüre viel Resonanz in mir. Hat das auch mit meinen Vorfahren zu tun? Auf der mütterlichen Seite liegen die Wurzeln meiner Herkunft in Osteuropa. Polen ist das erste Land das ich davon bereise. Vielleicht der Anfang von etwas? Wir werden sehen, aber auf jeden Fall bin ich auf unserer Reise von etwas berührt worden, das ich näher und tiefer kennenlernen möchte.